Am 1. Juni 2022 trat eine neue europäische Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung (VGVO) in Kraft, welche den Rechtsrahmen für Lieferbeziehungen zwischen Handel und Industrie regelt. Aktuell läuft noch die einjährige Übergangsfrist für Alt-Verträge, die bereits vor Mitte 2022 abgeschlossen wurden. Diese müssen allerdings bis spätestens 1. Juni 2023 an die neue Rechtslage angepasst werden.
Im Folgenden eine Zusammenfassung der wichtigsten Bestimmungen des neuen EU-Kartellrechts für den Textil- und Modehandel (ohne Gewähr):
- Der Handel ist nach wie vor grundsätzlich unabhängig bei der Preisfestlegung seiner Ware. Eine Preisbindung der zweiten Hand ist und bleibt damit unzulässig. Untersagt sind ebenfalls Anreize oder Drohungen zur Einhaltung von Mindestpreisen, z.B. über Werbekostenzuschüsse. Ausnahmsweise zulässig sind Vorgaben zu Höchstpreisen, wenn der Anbieter durch konkrete Nachweise belegen kann, dass diese Preisvorgaben nicht nur generell, sondern auch im Einzelfall zu Effizienzsteigerungen führen. Vereinbarungen mit dem Zweck, die Nutzung des Internets für den Verkauf von Waren faktisch zu beschränken, sind ausdrücklich als Kernbeschränkung definiert und verboten. Händler dürfen die Produkte der Lieferanten danach also nicht nur über die eigene Website bewerben und verkaufen, sondern auch Online-Werbekanäle (z. B. Suchmaschinen oder Preisvergleichsdienste) nutzen.
- Neu ist die Möglichkeit für den Lieferanten, den Verkauf über Drittplattformen (z.B. Amazon, Ebay) „in der Regel“ pauschal zu untersagen. Einige Kommentatoren weisen allerdings darauf hin, dass ein Plattform-Verbot die Online-Verkaufsmöglichkeiten speziell für kleinere Handelsunternehmen in der Praxis und abhängig von den Marktverhältnissen erheblich einschränken kann. Dies gilt wegen der überragenden Bedeutung von Online-Plattformen für den Vertrieb besonders in Deutschland. Unter diesen Voraussetzungen stellte ein Plattformverbot ausnahmsweise einen Verstoß gegen eine Kernbeschränkung der VGVO dar und sei unzulässig.
- Weiterhin können selektive Vertriebssysteme mit qualitativen Kriterien unter bestimmten Voraussetzungen (z.B. Objektivität, Diskriminierungsfreiheit) möglich sein, auch wenn der Marktanteil des Herstellers 30 Prozent überschreitet. Die Kriterien müssen dann jedoch transparent kommuniziert werden.
- Der Informationsaustausch zwischen Handel und Lieferant ist unter näher bestimmten Voraussetzungen zulässig (Marktanteile der relevanten Märkte von Lieferant und Händler dürfen 30 Prozent nicht überschreiten). Erlaubt ist der Austausch demnach, wenn er unmittelbar mit der Durchführung der vertikalen Vereinbarung zusammenhängt und für produktions- oder vertriebsbezogene Effizienzgewinne erforderlich ist (Art. 2 Abs.5 VGVO, 96 VLL).
- Zum „erforderlichen“ Informationsaustausch können z.B. Informationen über die Verkaufspreise im Handel (Sales Reports) oder Werbekampagnen zählen. Der Austausch darf aber keinesfalls der Einflussnahme auf die Weiterverkaufspreise dienen. Zudem darf der Händler dadurch keine Informationen über Aktivitäten von Wettbewerbern (Lieferant ist gleichzeitig auch Händler) erhalten. Nicht erlaubt sind weiterhin u.a. Informationen zu künftigen Verkaufspreisen.
- Auch wenn der Austausch von Abverkaufspreisen nach neuem Recht zulässig sein kann, soweit dadurch Effizienzsteigerungen bewirkt werden, weisen die Leitlinien mit Blick auf einen dualen Vertrieb gleichwohl auf die zusätzliche technische oder administrative Möglichkeit von Vertraulichkeitserklärungen, Chinese Walls etc. hin, um wettbewerbsrechtliche Risiken zu minimieren.
Fazit: Bestehende Verträge sollten daraufhin überprüft werden, ob sie im Einklang mit den neuen Regeln sind. Ist dies nicht der Fall, müssen die bisherigen Verträge bis zum 1. Juni 2023 angepasst werden. Allerdings gibt es in etlichen Bestimmungen der VGVO „Graubereiche“ und auch Widersprüche, die wohl erst über höchstrichterliche Urteile geklärt werden können.